I never promised you a kiss

 

Der Celler Kunstverein hat seinen sehr schönen, wenn auch nicht ganz unproblematischen Ausstellungsraum in der Gotischen Halle des Celler Schlosses. Nicht ganz unproblematisch deshalb, weil dieser Raum eine starke Eigenpräsenz besitzt, wegen der nicht wenige Künstler, die hier ihre Werke zeigten, schon vernehmlich gestöhnt haben. Simona Pries hat das nicht im geringsten gestört. Sie hat, um nur das mindeste zu sagen, aus der Not eine Tugend gemacht, wenn es denn für sie überhaupt eine Not war. Sie hat den Charakter des Raumes und des Schlosses benutzt, um sich von ihm zu ihrer Arbeit anregen zu lassen - mehr als irgendein Künstler vor ihr an diesem Ort. Man spricht ja gerne, wenn es um die gelungene Verbindung eines künstlerischen Werkes mit einem speziellen Ort geht, und immer dann, wenn so ein Ort ein Anregungspotential für den Künstler besessen hat, vom genius loci, vom Genie des Ortes. Diesen genius loci muß man natürlich zu fassen und zu begreifen wissen. Genau das hat Simona Pries beispielhaft vermocht.

Treten wir in die Installation, bekommen nicht nur unsere Augen, sondern auch unsere Ohren zu tun. Wir sehen farbiges Licht und eine mehrteilige, ebenso konstruktive wie narrative Plastik. Aus vier Lautsprechern hören wir Sequenzen eines uns allen bekannten Märchens. Es handelt sich um die Erzählung vom "Dornröschen", die sich in der großen Märchensammlung der Brüder Grimm befindet. Im Zentrum dieses Märchens steht ein Schloß, das mit all seinen Bewohnern hundert Jahre lang schläft, und von daher könnte das Sujet passender nicht sein für die Räume eines Kunstvereins, der in einem Schloß sein Domizil hat.

Zur Erinnerung: das Märchen vom Dornröschen gehört zur Gattung der Zaubermärchen. Eine schöne Prinzessin sticht sich infolge der Verwünschung einer bösen Fee an einer Spindel und fällt, wie gesagt, mit allen Schloßbewohnern in einen hundertjährigen Schlaf. Zur Erlösungsstunde dringt ein Prinz durch die um das Schloß gewachsene Dornenhecke und erweckt die Schlafende mit einem Kuß. Das Märchen reicht weit zurück. Man findet seine Ursprünge im altfranzösischen Roman wie im katalanischen Gedicht und in der nordischen Heldensage. Allein seine Verbreitung macht deutlich, daß in ihm kollektives Wissen aufgehoben ist. Es geht in ihm um Schuld und Sühne, Auferstehung und Erlösung. Das Märchen speichert Menschheitswissen, das Simona Pries sich für ihr Werk anverwandelt, fortschreibt und weitertreibt

Die Episoden und Sequenzen der Dornröschen-Erzählung, denen wir lauschen, ordnen sich in triadischer Weise. Sie folgen einem Dreischritt. Wir hören den Anfang des Märchens, der kündet vom verzweifelten Wunsch von König und Königin nach einem Kind - "Ach, wenn wir doch ein Kind hätten", seufzten sie, und kriegten immer keines" - und von der Prophezeiung des Frosches, daß sie noch binnen Jahresfrist eines haben werden. Wir hören im Mittelteil von der Einladung, die an die Feen, die weisen Frauen, ergeht, wobei eine vergessen wird. Wir erfahren von ihrer Kränkung und ihrem Todesfluch, von der Konterkarrierung und Umwandlung des Fluches in den hundertjährigen Schlaf durch eine gute Fee und wie es zu all dem kommt durch den narkotisierenden Stich der Spindel. Schließlich hören wir von dem tapferen Prinzen und von der Erweckung der Königstochter und dem glücklichen Ausgang, der GottseiDank den meisten Märchen eignet in einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Dem erzählerischen Dreischritt im Großen des Textes antworten sequentielle Triaden im Kleinen, also: Wunsch, Prophezeiung und Wunscherfüllung; dann Vergehen, Fluch und Strafe; schließlich Aufbruch, Mutprobe und Erlösung.

Der triadischen Textstruktur läßt Simona Pries eine triadische Installation folgen. Während wir den von ihr ausgewählten Passagen des Märchens lauschen, schauen wir auf drei identische orthogonale Gehäuse. Sie sind auch ein Reflex auf die triadische Bogenstruktur der gotischen Decke. Ihre Zahl spiegelt die Zahl der Bogen und ihre Manier, der Quader, kontrastiert gelingend mit der kurvilinearen Faktur der Decke. Die klare konstruktive Form der Gehäuse läßt an Module der Minimal Art denken. Nur das ihre Seitenwände aus einem transluziden Gewebe bestehen, das uns erlaubt, einen Blick ins Innere zu werfen. Auf einem Podest, auf einer Art Sockel, sehen wir in jedem der Gehäuse eine identische Liege, wie wir sie aus Krankenhäusern und Hospitälern kennen. Sie sind in der Installation von Simona Pries Metonymien des Menschen. Sie weisen hin auf Krankheit, Hinfälligkeit und Endlichkeit. Im weiteren Sinne auch auf den Schlaf Dornröschens. Auf einen Schlaf, der ambivalent ist. Der einerseits der kleine Bruder des Todes ist und der uns andererseits kräftigt und erfrischt und aus dem wir zu neuem Leben erwachen, wie Dornröschen am Ende ihrer Prüfung.

Ambivalenz und triadische Struktur werden auch im Charakter des farbigen Lichtes deutlich. Es dringt aus den Podesten, deren satinierte Glasflächen dafür sorgen, daß es die Liegen ebenso klar zeichnet wie diffus umspielt. Ihr Bild erscheint schwebend und schwimmend wie in einem Traum, und ist doch ganz und gar unmißverständlich. In dem sanften, violetten Licht, in das die Liegen getaucht sind, gibt es Rot und Blauanteile. Das ekklesiastische Violett ist also eine Synthese von Kalt und Warm, so wie der Schlaf oder auch die Krankheit zugleich zum Leben wie zum Tod hin tendieren. Krankheit ist immer Krise, und Krise heißt Wende, und ist damit Chance, daß sich die Dinge nicht notwendig zum Schlechten, sondern auch zum Besseren hin entwickeln. Die Kirche hat das immer gewußt. Prüfungen sind für sie stets noch eine Möglichkeit, um den Weg zu Gott zu finden. In Krankheit und Krise reifen wir, lernen wir und werden kräftiger, wenn wir sie denn überstehen. Daher hat Pries die Krankenbetten aufgesockelt und so exponiert aufgestellt. Bei aller Differenz, vor allem was den konstruktiven Purismus der Arbeit angeht, gibt es in ihrem Werk eine thematische Nähe zu einer berühmten Installation von Joseph Beuys, deren Zentrum ebenfalls eine Krankenliege bildet.

Eine, nicht drei. Und diese Liege ist auch nicht aufgesockelt, nicht vom Betrachter durch ein Gehäuse getrennt, und zudem operiert sie mit einem rabiaten Realismus, mit Blut, Verbandszeug und chirurgischem Besteck. "Zeige Deine Wunde", so der Titel des Werks von Beuys, teilt indes mit der Arbeit von Simona Pries bei aller formalen Differenz denselben Gedanken, denselben Essentialismus. Die Wunden, die das Leben schlägt, die Krankheiten, das Not und Elend, das wir zu tragen und zu erleiden haben, sind nicht nur negativ zu sehen. Es sind Hürden, an denen wir wachsen können. Initiationen, die uns ins Leben führen. So, wie der Schlaf Dornröschens Prüfung ist und der Kuß des Prinzen Initiation. Er macht Dornröschen zur Frau und führt sie ins Leben. Wunden muß man nicht verstecken, sondern man kann stolz auf sie sein. Man kann sie zeigen, und man sollte sie zeigen. Und es ist besser, wenn man sie zeigt. Denn sie legen Zeugnis davon ab, wie und warum wir geworden sind, wer wir sind.

Wie man in Krise und Krankheit geraten ist, ob schuldhaft oder unverschuldet, ist weniger wichtig als wie man mit ihnen umgeht. Da bilden und beweisen sich Stärke und Charakter. Und genau davon singen und weissagen Märchen und Sage. Immer wieder geht es darum, daß wir in Krisen geraten, denn das Leben der Menschen ist fragil und krisenhaft, und darum, wie wir diese Krisen meistern. Flüchten oder Standhalten, der Titel eines wichtigen Buches, gibt ein Maß vor. Den Standhaften und Standhaltenden preist nicht von ungefähr auch das Märchen. Und wenn es hundert Jahre dauert, um zu neuem Leben zu erwachen. Diese Alternative, Flüchten oder Standhalten, unterliegt keiner Mode. Sie ist zu jeder Zeit und in jedem Alter aktuell.

Deshalb erleben wir in der Installation der Künstlerin einmal mehr den schon bekannten Dreischritt, der nach Hegel und seiner Dialektik nichts anderes ist als der Rhythmus des Lebens selbst: Werden und Vergehen und wieder Werden. In der Diktion Goethes heißt das: "Und so lang Du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist Du nur ein trüber Gast hier auf dieser Erde." Simona Pries läßt das Dornröschen-Märchen von unterschiedlichen Protagonisten dreier Lebensabschnitte lesen, von Kindern, Menschen in der Lebensmitte und von älteren Menschen und jeweils von beiden Geschlechtern. Was die Prüfungen des Lebens angeht, gibt es keinen Geschlechter-Bonus. Da ist das Schicksal fair. In den Prüfungen des Märchens ist Menschheitswissen aufgehoben, das in jedem Lebensalter und in jeder Generation Konjunktur hat, und damit in der Vergangenheit, der Gegenwart und auch in der Zukunft.

Zuletzt der Titel: "I never promissed you a kiss." Eine Apostrophe. Aber wer spricht da wen an? Der Prinz im Märchen kann es nicht sein. Spricht die Künstlerin zu uns, zu ihrem Publikum? Oder spricht da unser aller persönlicher Prinz oder Prinzessin zu uns, der seine Erlöser- bzw ihre Erlöserinrolle in unserem Lebensdrama verweigert? Wohl beide. Erlösen können wir uns, jedenfalls hier auf Erden, am Ende nur selbst. Erlösen und Auferstehen bleiben für uns in dieser Welt so individuell wie das Sterben. Das sind persönliche, vielleicht sogar künstlerische Akte. Noch einmal fällt mir in diesem Zusammenhang Joseph Beuys ein und sein Satz "Jeder Mensch ist ein Künstler!", der wie kein anderer im letzten Jahrhundert mißverstanden wurde. Damit meinte der Meister aus Kleve mitnichten, daß jeder von uns zeichnen, malen oder plastizieren sollte. Sondern wir sollten doch bitte lernen und erkennen, daß der plastische Stoff, der uns zur individuellen wie originären Kunstausübung gegeben wurde, das eigene Leben ist. Was einer daraus macht, aus seinem Leben, entscheidet am Ende darüber, ob wir ihn einen Künstler oder Amateur werden nennen müssen. Ein wichtiger Gedanke! Ebenso schnell vergessen wie mißverstanden. Simona Pries Celler Installation bringt ihn uns zurück.

 

Michael Stoeber, Hannover 2005

Grössen:
250/250/150 cm Lichträume
33/200/100 cm Lichtpodeste
65/190/65 cm Behandlungsliegen

Material:
Aluminiumprofile 3/3 cm, 24 m transluzentes Gewebe, Typ Trevira, weiß
lackierte Holzpodeste, drei Scheiben klares Plexiglas, drei Scheiben
satiniertes Plexiglas, Diffusorfolie, 36 Leuchtstoffröhren: Lichtfarbe day light, umwickelt mit Filterfolien in den Farben just red und primary blue, drei Behandlungsliegen mit Papierrollen ausgestattet, Abspielgeräte und Lautsprecher

Sprecher:
Johanna Albrecht und Carl Sirowatka-Kull
Petra Kaltenmorgen und Oliver Francke-Weltmann
Ingmar-Elisabeth Hornschuh und Hans-Werner Dannowski