Irdische Illusionen - Über die Installation “I want more life fucker”

“I want more life fucker”. Ausgesprochen wird diese vehemente Forderung von einem Replikanten in dem Science-Fiktion-Film Blade Runner (1982). Als Replik eines Menschen steht ihm eine vorprogrammierte Lebenszeit zur Verfügung. Seine künstliche Existenz verdankt er der Tyrell Company. Diese wirbt für ihre Produkte mit dem Slogan: “More Human than Human!” Aber was könnte menschlicher sein als die Forderung nach mehr Leben? Der Replikant ist in diesem Falle nicht menschlicher als Mensch, ganz im Gegenteil: Seine Forderung nach mehr Leben beweist, dass er bereits die existenziellen Fragen des Menschseins verinnerlicht hat. Denn als künstliche Intelligenz müsste er der „eigenen“ Endlichkeit gleichgültig gegenüberstehen. Die Zerreißproben und Spannungen des Lebens in einen erträglichen und sinnvollen Zusammenhang zu stellen ist eine allgemeingültige Forderung. Die Forderung nach mehr Leben kann beides sein: der Aufschrei eines Verlorenen oder die Forderung eines unersättlichen Bewusstseins. Die Arbeit wirft existentielle Fragen nach Zeit, Raum und Bewusstsein auf.

Simona Pries verwendet Sand, Spiegel und Glas und arrangiert diese als raumfüllende Installation. Die Künstlerin konzentriert sich auf elementare Formen und spricht in einer kühlen und minimale Inszenierung von den Dingen des Lebens: Der Sand markiert den unsicheren Grund der Existenz, der Spiegel die Endlichkeit des Körpers und die gleichzeitige Tiefe des Raums. Erweitert wird die klare Präsentation durch eine eindrückliche und emotional fordernde Soundsequenz, die im Abstand von 7 oder 11 Minuten die gequälten und bedrückenden Laute eines panischen Pferdes einspielt. Der Wunsch nach Überwindung der Endlichkeit ist den Tieren fremd. Ihr Bewusstsein ist ganz konzentriert auf das, was sie sind und sein sollen. Wie weit ihr Bewusstsein reicht ist von jeher das Interesse der Philosophie. In diesem Sinne gilt der Mensch als ein unglückliches Tier, da er ausgestattet ist mit dem traurigen Bewusstsein von Zeit und Vergänglichkeit. In der Installation wird die Tonspur aber zum Beweis für die Leidensfähigkeit eines Tieres. Denn der Mensch verdinglicht das Tier in erster Linie zum Nahrungsmittellieferanten. Und findet den Tieren gegenüber eine widersprüchliche emotionale Bindung in Form von Haus- und Zuchttieren. Aber ähnlich dem Replikanten müssten die Tiere mehr Leben und Anerkennung fordern: Der Widerhall der gequälten Kreatur belegt dies eindrücklich.

Der Boden der Kunsthalle Springe ist mit Sand bedeckt. Quarzsand findet sich in großen Mengen auf der Erde. Die globale Menge an Sandkörnern gilt als Synonym für die Unzählbarkeit. Im Umkehrschluss bedeutet die Unmöglichkeit der Quantifizierung eine Reflexion über universale Relationen: Zwar kennen Zeit und Raum keine Aggregatzustände, dennoch sind die feinen Sande nichts anderes als geriebene, verflüchtigte und fragmentierte Zeit. Wer auf Sand steht, steht auf Zeit und erfährt die Verkettung von Raum und Zeit, von Greifbarem und Ungreifbarem. Der Spiegel, als weiteres Element der Installation von Simona Pries, ist eine Illusion des Raums: ein Abbild mit scheinbarer Tiefe. Der Raum, der sich in ihm auftut, ist nie zu betreten, die Bilder, die in ihm erscheinen, sind bloße Reflexe des Lichts. Spiegel haben eine weitreichende kulturgeschichtliche Bedeutung. Sie sind Sinnbilder der Eitelkeit, des Narzissmus oder zeigen die Flüchtigkeit und Endlichkeit des Lebens. Sie sind aber auch magische Projektionsflächen, die im Märchen, ähnlich einem Orakel, die Zukunft vorhersagen können oder den Einstieg in eine andere Welt bieten. Spiegel sind auch Bausteine technischer Geräte: Spiegelteleskope ermöglichen eine Erweiterung des Blickes in den unendlichen Raum. Dennoch: Das stetige Zurückwerfen der Welt im Spiegelbild lässt sich nicht auflösen. Jede Erweiterung der Körperlichkeit ist ein Produkt der Vorstellungskraft. Die Überwindung von Zeit und Raum ist in diesem Sinne eine irdische Illusion.

© Maik Schlüter, 2013

 

Grössen:
Schwarzer Kubus: 220 x 100 x 60 cm
Spiegelskulpturen aus jeweils drei Spiegelflächen: 220 x 60 / 180 x 40 / 80 x 60 cm
Einzelner Spiegel am Boden: 60 x 80 cm

Material:
1,5 Tonnen Quarzsand
Glas einseitig schwarz lackiert
Spiegel
Schwarzer Filz

Klang:
Dauer der Aufnahme eines Pferdes in großer Angst: 2:51 Min.
Diese Laute werden alle 7 oder 11 Minuten als Endlosschleife abgespielt.