bodenbilder

 

"Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen," hat Ludwig Wittgenstein einmal geäußert.

Diese Aspekte zu enthüllen, sie erlebbar zu machen ist die Intention meiner Arbeit "bodenbilder". Im Rahmen dieser Arbeit sind 128 Videoaufnahmen von Bodenoberflächen der Stadt Leipzig auf einer Fläche von einem Quadratkilometer entstanden. Durch dieses gezielte Betrachten eines grundlegenden Aspekts für den Ort, den Boden, wird anhand von Videobildern ein Betrachtungsraum geschaffen, in welchem sich der Zuschauer der Stadt aus einer konzentrierten Sicht nähern kann.

Es gibt viele Gesichtspunkte, die es interessant machen, den Boden zu betrachten: Eines der stärksten Mittel beim Verbinden und Zusammenfügen der Stadt ist der Boden. Bodenoberflächen schaffen ein Beziehungsgefüge in der Stadt. Ist die Bodenoberfläche nicht gleichberechtigt zur Gebäudeoberfläche, bleiben die Gebäude vereinzelt, da der Blick nicht in gleicher Weise vom Boden gehalten wird. Der Boden übernimmt somit die Aufgabe der dritten Fassade im Straßenbild. Über den Boden sind wir physisch mit der Welt verbunden. Der Boden trägt die Stadt. Die Bodenbeschaffenheit beeinflusst Klang und Geschwindigkeit des städtischen Lebens. Und der für mich wichtigste Punkt: In der Stadt gibt es unaufhörlich Bewegung, aber der Boden ist immer ruhig, er bewegt sich nie. Der Boden ist ortspezifisch, er läßt sich nicht versetzen.

Das Wort "Boden" ist ein abstrakter Begriff. Bei Beschreibungen fügt man dem bloßen Wort "Boden" eine Materialbezeichnung hinzu. Man sagt Asphaltboden, Steinboden, Sandboden, Dielenboden, Keramikboden ... Es erscheint dadurch ein genaueres Bild vom Boden. Die ganz individuelle Erscheinung eines Bodenausschnitts bezeichne ich als "bodenbild". Die Bodennähe bis zur Kniehöhe liegt nicht im zentralen Blickfeld und wird daher selten aktiv wahrgenommen. Daher schenkt kaum jemand dem Boden Beachtung. Doch bietet gerade er Fläche für die unauffällige Poesie des Alltäglichen. Die zarte durchsichtige Folie einer Zigarettenverpackung glitzert neben dem matten schweren Pfahl einer Laterne. Unzählige Kaugummiflecken bilden ein heiteres Muster auf dem gleichförmigen Betonsteinboden vor dem Eiscafe Pinguin. Eine kleine Milchstrasse von Flecken, ein Universum auf Beton.

Sehen wird in der heutigen Zeit meistens begleitet von Lärm und Geschwindigkeit, das verhindert die ungetrübte Sicht auf die Dinge. Der Stadtmensch ist einer Flut von Bildern ausgesetzt, so wird die Stadt zur rhythmischen Bilderfläche. Die Bilder wechseln zu schnell, als dass man sie mit den Augen festhalten könnte. Sehen findet nicht mehr aktiv statt, es ist vielmehr ein Zustand des sich Treibenlassens in den Bildern der Stadt. Die sinnliche Wahrnehmung ist zwar keine Handlung des Verstandes, doch zunächst geht es um die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung, die eine bewusste Handlung des Verstandes voraussetzt.

Die Arbeit zeigt durch gezielte Selektion eine Möglichkeit, der Menge der fremd produzierten Bilder und der Geschwindigkeit des heutigen Lebens entgegen zu treten. Der Betrachter wird keiner erneuten Bilderflut ausgesetzt, er wird auch nicht unterhalten. Ruhige statisch gefilmte Bilder werden gezeigt. Das aktuelle Erleben bedingt Muße und bringt sie hervor. Gefordert wird ein "geduldiges Betrachten eines Werkes, bis es einem die Augen aufschlägt." (Adorno)

Die Projektionsgröße orientiert sich am tatsächlich gefilmten Ausschnitt. Das Bildmaterial wurde minimal nachbearbeitet und in der Reihenfolge neu zusammengestellt. Mit der Installation "bodenbilder" wird eine Möglichkeit gegeben, aus dem Bekannten und dem Alltäglichen, das Unbekannte und Besondere entwickeln zu können. Geschichte entsteht aus Erinnerung. Mit dieser Arbeit wird das Erinnern herausgefordert, weil sie sich mit einem konkreten, nachvollziehbaren Ort beschäftigt, das heißt Einspruch zu erheben gegen die zu einer Maxime erhobene Schnelllebigkeit der anonymen Massengesellschaft.

"Unsere Sinne nehmen nichts Extremes wahr.
 Zuviel Lärm macht uns taub.
 Zuviel Licht blendet uns.
 Die extremen Mengen sind unsere Feinde.
 Wir empfinden nichts mehr, wir leiden."

                                                         Pascal

 

Simona Pries, Bauhaus Dessau 1999